Die unbekannte Geschichte einer abenteuerlichen Auswanderung

Aus dem fernen Brasilien erhielt der Ortschronist am 28. Juli 2021 eine Nachricht per E-Mail. Die Journalistin und Historikerin Rita Couto, Direktorin des Instituto Teuto-Brasileiro William Dilly, erkundigte sich dabei nach Unterlagen zur Familie David Larcher, die 1858 nach Brasilien ausgewandert sein soll. Für den Chronisten Manfred Wegleiter war diese Nachricht eine große Überraschung, denn von einer Auswandererfamilie Larcher hatte er bislang noch nichts gehört. Auch im Gemeinde- und Chronikarchiv von Haiming finden sich dazu keine Unterlagen.

Weitere Nachfragen bei Frau Couto und Recherchen in den Kirchenbüchern von Haiming und Roppen (durch die Chronistin Jolanda Krismayr) brachten weitere, sehr interessante Erkenntnisse, die wir den interessierten Leserinnen und Lesern hier gerne vorstellen.

Im Jahre 1858 wanderten 277 Tiroler und 918 Deutsche nach Juiz de Fora, das 200 Kilometer von Rio de Janeiro entfernt ist, aus. Die Gruppe der Auswanderer wurde von der Firma „Companhia União e Indústria“ eingestellt, um die Kolonie „Pedro II“1 zu gründen. Die Auswanderer haben vor Beginn der Reise einen Arbeitsvertrag unterschrieben und sind dann von Hamburg die Reise in die unbekannte Welt angetreten.

David Larcher wanderte mit seiner schwangeren Ehefrau Anna Maria geb. Wohlfarter2 aus Roppen und den neun Kindern Catharina, Andreas, Josef, Maria, Nothburg, Johanna, Alois, Jakob und Mathias aus. Die Großfamilie Larcher kam auf das dritte Segelschiff „Gundela“. 79 Tage dauerte die Reise über den Atlantik, auf der Anna Maria ihr zehntes Kind auf die Welt brachte. Während der Überfahrt brach auf dem Schiff eine Typhus-Epidemie aus, die sechs Menschen das Leben kostete, sechs Kinder wurden geboren.

Zum Foto rechts: Familie Larcher vor der Kapelle "Santana" im Jahre 1896; Bildnachweis: Acervo do Instituto Teuto-Brasileiro William Dilly

1 Pedro II war der letzte brasilianische Kaiser, Sohn von Maria Leopoldine von Österreich, Enkel von Franz I., Kaiser von Österreich.

2 Im Reisepass für die Familie Larcher wird die Ehegattin des David Larcher irrtümlich als geborene Waldhart bezeichnet. Sie ist aber definitiv eine gebürtige Wohlfarter aus Roppen, Tochter des Alois Wohlfarter und der Anna Kirschner. Der Vater von Anna Maria Wohlfarter ist 1791 in Wald/Pitztal geboren und war 1820 Lehrer und Mesner in Roppen.

 

 

Am 25. Juli 1858 legte das Segelschiff „Gundela“ in Rio de Janeiro an, am selben Tag starb Andreas Larcher, in den folgenden zwei Monaten verließen noch drei weitere Kinder des Auswandererehepaares diese Welt. Von Rio de Janeiro aus ging es weiter nach Juiz de Fora, damals eine kleine Stadt in einer ländlichen Region mit vielen, großen Bauernhöfen. Die Kolonie Pedro II. war weniger als vier Kilometer vom Stadtzentrum entfernt und verfügte über etwa zweihundert Grundstücke. Jede Parzelle durfte nicht weniger als 20.000 Quadratbrassen (96.800 m²) umfassen – David Larcher kaufte gleich zwei Parzellen (Nr. 157 und 158), bebaute das Land und baute ein Haus. In der neuen Heimat bekam das Ehepaar Larcher noch zwei weitere Kinder.

Im Jahre 1864 hat die Familie Larcher in Juiz de Fora eine kleine St. Anna Kapelle errichtet, die derzeit ein Welterbe der Stadt ist. Für den Bauern, der vom kleinen Weiler Schlierenzau auszog, um sich in der neuen Heimat Brasilien eine bessere Existenz aufzubauen, wurde von seinen Angehörigen damit das Versprechen eingelöst, das er während der Überfahrt abgegeben hat. David Larcher konnte die Fertigstellung der Kapelle nicht mehr erleben, er starb im September 1863, seine Gattin Anna Maria am 6. Mai 1901 an einem Schlaganfall.

Das Bild links zeigt die Kapelle Hl. Anna, erbaut von Auswanderer David Larcher. Foto: Rita Couto, Instituto Teuto-Brasileiro William Dilly

Heute ist Juiz de Fora, das im Bundesstaat Minas Gerais liegt, eine Großstadt mit 600.000 Einwohnern. Von der Familie Larcher gibt es noch Nachkommen, die heute Namen wie Kirchmair, Prantl, Keil, Thielmann und Zimmermann tragen, da nur David’s Töchter Kinder hatten.

Rita Couto hat über die Kapelle St. Anna ein Buch geschrieben – darin kommen auch Fotos und Dokumente der Familie Larcher vor.

Sie schreibt: „Es ist eine Freude zu wissen, dass die Geschichte der Familie Larcher in der digitalen Version des Gemeindebuchs erscheinen wird! Für mich persönlich hat diese Geschichte eine besondere Bedeutung. Die kleine Kapelle spielt eine große Rolle in meinem Leben. Infolge der Kapelle hat mein Interesse (und Forschung) für die Tiroler und die deutsche Einwanderung begonnen. Dort gehe ich jeden Sonntag zur Messe und bin Kommunionhelferin. Mein Zuhause ist auf dem Grundstück, das der Familie Larcher gehörte. Diese Geschichte gehört zu meinem täglichen Leben, als hätte ich David Larcher und seine Familie kennengelernt und wäre ihr Freund. Deshalb danke ich Ihnen im Voraus, dass Sie diese Geschichte im Gemeindebuch verewigen.“

Wie sehr Rita Couto mit der Geschichte der Auswanderung verbunden ist, beweist die Tatsache, dass sie gemeinsam mit dem Historiker Roberto Dilly an einem Buch arbeitet, das die Geschichte der 277 Tiroler Auswanderer und ihrer Nachfahren in Brasilien beschreibt.

Mit der Familie Larcher wanderten noch zwei weitere Familien aus Haiming nach Juiz de Fora im Bundesstaat Minas Gerais aus. Vom Silzerberg aus startete Joseph Prantl3 mit seiner zukünftigen Gattin Therese4 geb. Prantl und Tochter Kreszenz5 in das Abenteuer. Geheiratet haben Joseph und Maria Theres mit 31 weiteren Tiroler Paaren am 6. Mai 1858 in Hamburg, bevor sie das Segelschiff „Gundula“ betreten haben. Nachkommen der Silzerberger Familie leben heute noch in Juiz de Fora und haben aufgrund von Übertragungsfehlern den Schreibnamen „Brandel“.

Joseph und Theresia hatten dann in Juiz de Fora noch weitere gemeinsame Kinder – einer von diesen, auch Josef genannt, wurde im Jahre 1901 in der St. Anna-Kapelle mit Anna Maria Weitzel getraut. Sie war die Tochter von Martin und Maria Weitzel geb. Larcher.6

Das Foto rechts zeigt Anna Maria Prantl geb. Weitzel , sie war die Tochter von Maria Larcher, die noch in Schlierenzau auf die Welt gekommen ist.

3 Joseph war geboren am 6.12.1828 als Sohn des Konrad Prantl und der Notburg geb. Praxmarer von Höpperg.

4 Theres war geboren am 20.11.1829 als Tochter des Anton Prantl und der Elisabeth Fux(in) von Hausegg.

5 Kreszenz war geboren am 22.5.1855 als Tochter der Theres Prantl von Hausegg.

6 Maria Weitzel war die Tochter von David Larcher und Anna Maria Wohlfarter.

Ein Bruder des Joseph Prantl vom Silzerberg soll nach Nordamerika ausgewandert sein.7 Es handelt sich dabei um Johann Prantl, geb. am 22.2.1843 in Silzerberg, der 1869 in die USA emigrierte, wo er die Maria Kuprian (ebenfalls vom Silzerberg) heiratete.

Ebenfalls von Schlierenzau den weiten Weg in die unbekannte Welt wagten Anton Grüner (geb. 4.12.1818 in Sautens als Sohn des Michael Grüner und der Maria Köll) und seine vier Söhne Alois (geb. 6.6.1844), David (geb. 7.7.1846), Jacob (geb. 12.4.1948) und Otto (geb. 29.3.1851). Die Familie Grüner wohnte auch im Haus Nr. 117. Von seiner Frau Eva geb. Stecher gibt es bislang noch keine gesicherten Informationen, sie scheint aber weder in der Auswandererliste noch in den Passagierlisten auf.

Sollten sich zu dieser Auswanderergeschichte neue Informationen ergeben, werden wir im digitalen Haiming-Buch darüber berichten.

Text: Manfred Wegleiter, Ortschronist

Das Bild links zeigt den Reisepass von David Larcher; Bildquelle: Instituto Teuto-Brasileiro, William Dilly


7 Laut Nachforschungen von Roberto Dilly (Juiz de Fora)

Das Bild rechts zeigt die Historikerin Rita Couto, die den Ortschronisten Manfred Wegleiter auf die Spur der Haiminger Auswanderer brachte.